Die Ideenjägerin
Ich bin eine Ideenjägerin. Ich jage Ideen und Gedanken und Illusionen hinterher.
Äußerlich still sitzend, ruhig scheinend, tobt es im Inneren, die Jägerin rast hinter Gedanken her, flüchtigen Illusionen, Träumen, bloßen Ideen und Schatten der Realität, die ich zu greifen versuche, denen ich oft ganz nahe bin, dass ich sie fast berühren kann - und wenn ich mich dann mit lautem Jagdgeheul darauf stürze - puff, sind sie wieder weit weg.
Also streife ich weiter durch das dichte Dickicht meiner Gedankenfäden, das an mir zieht, mich nicht durchlassen will, wo ich nur zu oft den Weg und die Orientierung verliere. Die knorrigen, dornigen Zweigchen alter, langlebiger Gedanken wollen mich stets ablenken, ziehen meine Haare in verschiedene Richtungen und mit ihnen meine Konzentration, meine Aufmerksamkeit.
Huch, ein Vogel, der sich neben mir aufgeschreckt in die Lüfte empor schwingt.
Wie schön das Sonnenlicht sich in den taunassen Spinnweben verliert und diese zum Glitzern bringt.
Schau, da vorne springt ein größeres Tier ins Dickicht davon. War es ein Hase oder ein Reh?
Gedankenwege, die sich im Dunkel des geistigen Waldes verlieren. Münden sie in Erinnerungen oder Zukunftsträumen?
Wieder den Faden verloren. Wieder stecken geblieben im Dickicht.
Eine Phase des Innehaltens, Kraftschöpfens, Orientierung gewinnens folgt.
Wo bin ich? Wer bin ich?
Wieder auf festem Boden stehen, den Rhythmus der Erde und des Lebens spüren.
Was war das?
Schon glitzert es wieder verlockend in der Ferne. Die Jägerin streckt sich, wirft Rucksack, Pfeil und Bogen über die Schultern und trabt los.
Leichtfüßig diesmal, über Gedanken, die sich in knorrigen Wurzeln verhärtet haben hinwegspringend, die Haare durch Äste und Dornen gleitend, ohne hängen zu bleiben.
Stets dem Glitzern nach, stets der Verlockung nach, die sich beim Näherkommen immer klarer abzeichnet und sich zu einer neuen Idee verdichtet.
Das Spiel beginnt erneut. Die Jagd wird rasanter. Immer schneller schlägt das Herz, die Muskeln arbeiten hart, der Atem ist schnell und flach.
Die Beine greifen weit aus, ein Springen, Ducken, Ausweichen, um Kurven schlittern. Gedankenzweige, die sich in den Weg stellen wollen, werden im Lauf nur gebrochen oder geknickt.
Gedankensümpfe werden elegant übersprungen, Nebelschwaden und Schatten mutig durchquert.
Die so verlockend glitzernde Idee spornt an, ermutigt, gibt Kraft und Fokus. Das Dickicht wirkt weniger undurchlässig, die Sonne lässt alles in warmem Licht und bunten Farben leuchten.
Immer näher kommt die Jägerin der schillernden Idee. Schweißperlen tropfen von der Stirn, der Atem formt Wölkchen in der kalten Morgenluft. Immer näher ist die Idee, imer deutlicher werden ihre Konturen, ihre Formen, ihre Farben. Fast meint die Jägerin den Duft und Zauber der Idee bereits spüren zu können.
Begeistert und siegessicher beschleunigt sie noch einmal, geht an die Grenzen ihres vor Anstrengung bebenden Körpers. Nächtelang nicht geschlafen, kaum gestoppt, geruht, gegessen. Immer nur gerannt, gehetzt, die Idee gejagt.
Nun ist die Erfüllung nahe, bald haben sich die Mühen gelohnt. Ein letzter kraftvoller Schritt und die Jägerin katapultiert sich in die Luft, ihr Körper schnellt in die Höhe, sie stößt ein weiteres mal ein triumphierendes Jagdgeheul aus und stürzt sich nach vorn.
Die ausgestreckten Hände greifen ins Leere, umarmen nur den Körper der Jägerin.
Der Aufprall ist hart. Unsanft klatscht ihr Körper am Boden auf, krümmt sich.
Alles schmerzt.
Aus dieser Perspektive ist alles dunkel. Kaum Licht dringt durch das Dickicht zum Boden.
Der Körper zittert vor Anstrengung und Erschöpfung.
Alles schmerzt.
Bewegungslos verharrt die Jägerin am Boden. Regungslos, energielos, verloren.
Wie lange sie da so liegt, weiß sie nicht. Zeit hat keinen Wert mehr. Der Ort hat keinen Wert mehr. Die Welt hat keinen Wert mehr.
Irgendwann durchzuckt ein Impuls sie. Ihre Finger regen sich, stützen sich ab, helfen ihr, auf die Knie zu kommen.
Zögerlich öffnen sich die Augen. Ganz schwer sind die Lider. Vorsichtig blicken die Augen scheu um sich.
Wo war sie?
Um sie nichts als Gedankenfäden, die sich sanft im Wind wiegen. Manche noch jung und geschmeidig, manche schon alt und verhärtet. Alle verloren sich im Nichts.
Weg sah sie keinen. Ziel sowieso nicht. Auch nur wenig Licht.
Zu dicht war das Geflecht aus Gedanken hier am Boden. Sehnsüchtig blickte sie nach oben.
Dass sie die Idee wieder nicht hatte fassen können? Dass aus Idee wieder nur Illusion geworden war?
Sie verstand es nicht.
Mühsam stand sie auf, klopfte sich den Staub und Dreck von der Kleidung, ordnete ihre Haare, die wieder von den Zweigen in alle Richtungen gezogen wurden - und inspizierte ihren Bogen.
Er hatte den Aufprall überlebt. Nur ein Pfeil war gebrochen. Achtlos warf sie ihn ins Gebüsch.
Sollte sie vielleicht doch einmal ihren Bogen einsetzen und die Idee zu Fall bringen, bevor sie ihr wieder entwischen konnte?
Doch war eine gebrochene, erzwungene Idee überhaupt wertvoll für sie? Sollte die Idee nicht aus freien Stücken zu ihr kommen? Konnte sie Ideen, die nicht von alleine kamen überhaupt annehmen? Waren sie es wert, dass sie Energie und Aufmerksamkeit dahin richtete oder waren sie eher wie der gebrochene Pfeil? Nutzlos?
Sie schlug eine Bresche ins Gedankendickicht und stapfte los. Langsam wurde es wieder lichter um sie. Eine weitere Idee hatte sich als Illusion entpuppt.
Abschütteln, neu ordnen, orientieren, weiter.
Dem Gedankenwald entkommen, dem Pfad auf eine Lichtung folgen.
Die Stille zwischen den Gedanken(wäldern) und die Sonne genießen.
In der Ferne leuchteten schon wieder ein paar Ideen. Noch waren sie eher wie durchscheinende Schleier, die schwerelos in der leichten Brise herumwaberten. Ziellos, undefiniert, ungreifbar.
Langsam aber zielstrebig machte sie sich auf den Weg dorthin. Viele Biegungen und Windungen und Irrwege später wurden die Schwaden langsam dichter. Einzelne Gedankenfäden vermischten sich mit den fluoreszierenden Ideenkonstrukten und begannen diese mit Leben zu füllen.
Die Jägerin wurde aufmerksam. Ihre Augen leuchteten auf. Die Mundwinkel zogen sich zu einem siegessicheren und berechnenden Lächeln nach oben.
Sie hatte Beute gerochen.
Sie nahm die Fährte auf.
März 2018